Was ist da noch?
Eine Frage, die für Johannes im zweiten Teil zu einer unvorstellbaren Reise wird.
Eine Welt ohne den Einfluss des Kapitals, in der jede persönliche Entscheidung
abhängig vom Wohl der Allgemeinheit ist.
Eine Welt, die scheinbar vollkommen ist, und ohne den Einfluss der Menschen,
funktioniert und harmoniert.
Was wollen die Anderen von Johannes?
Was ist seine Aufgabe in dieser fantastischen Geschichte?
Etwas Neues entsteht, gewaltiger und formender als je zuvor.
Die Menschheit , …sie wird sich ändern, und Johannes ist der Schlüssel dazu.
… er sah, dass es gut war, und dabei lächelte er.
Sie kamen mit einem Getöse. Normalerweise war es in dieser Welt leise und friedlich, doch heute war ein Grummeln in der Luft wie von einem nahenden Gewitter. Es schien von weit oberhalb der Felswand zu kommen.
Wir standen auf einem kleinen Vorplatz nahe der Hütte und hatten uns umgezogen. Die feinen Kleider aus gewebten Algenfasern hatten wir in der Hütte zurückgelassen und waren stattdessen in oberirdische Kleidung gehüllt. Bergschuhe, Wanderhosen, T-Shirts und Fleecejacken. Aulacid hatte mir erklärt, dass bei einem Austritt immer versucht wird eine Kleidung zu wählen, die unauffällig ist und einen am besten als Touristen ausweist. Als Tourist kann man immer mit Hilfe und Unterstützung der Einheimischen rechnen.
Sie hatte einen Rucksack umgeschnallt, über dessen Inhalt ich aber nichts wusste.
So standen wir am Fuße der Felswand, blickten nach oben, und ich versuchte zu ergründen, was die Ursache dieses Lärms war. Es war mir aber nicht vergönnt, denn wie immer gab es morgens dichte Nebelschwaden, die sich wegen der über Nacht abgekühlte Luft gebildet hatten.
Das Grummeln schwoll zu einem Geräusch an, das man am besten damit beschreiben könnte, dass es klang, als wenn ein großer Felsen über einen anderen geschoben würde. Ein Steinschlag!
„Um Himmels willen, wir müssen hier weg, eine Steinlawine fällt die Felswand nach unten!“, rief ich und zog Aulacid von der Felswand fort, in die Mitte der Lichtung.
„Ganz ruhig, mein Kleiner“, feixte sie, „alles ist in Ordnung, sieh selbst.“
Sie zeigte auf die Stelle, an der die Nebelschwaden auf den Berg trafen, und plötzlich sah ich etwas. Es war ein Gefährt, nein, eine Plattform oder etwas Ähnliches, das die Felswand nach unten rumpelte. Sie war nicht besonders schnell unterwegs, aber den Geräuschen nach, welche sie produzierte, war sie alles andere als sanft zu dem felsigen Untergrund.
Wir gingen wieder zur Felswand und kamen gerade rechtzeitig an, als das jetzt als Plattform erkennbare Gefährt aufsetzte. Sie ähnelte jenen, wie sie Fensterreiniger an Wolkenkratzern verwenden. Der einzige Unterschied, der sofort auffiel, waren die fehlenden Seile, an welchen sie üblicherweise hängen sollte.
Die Plattform war nicht gerade klein und maß in der Länge nahezu zehn Meter und in der Breite fast drei Meter. Also genug Platz an Bord. Dort waren aber nur drei Zwerge, die mich mit interessiertem Blick musterten. Bei der obligatorischen Begrüßung, die – wie bei uns Menschen – mit einem sanften Händedruck vonstattenging, fiel mir auf, dass einer der drei Zwerge ein Mädchen war. Von der Gestalt her war sie etwas zarter als ihre männlichen Kollegen und sie hatte glücklicherweise auch keinen Bart, was ich als durchaus positiv in Hinblick auf ihre Weiblichkeit anführen möchte.
„Wie ist diese Plattform an der Wand befestigt?“, fragte ich laut nach.
„Was heißt befestigt?“, sagte die Zwergin. „Wenn sie befestigt wäre, könnten wir uns doch nicht auf- oder abwärtsbewegen.“
Erst auf einen Fingerzeig von Aulacid hin, die bereits auf die Plattform gestiegen war, erkannte ich den breiten schwarzen Kasten, der über die gesamte Länge der Plattform zur Felsseite hin montiert war.
„Ist das auch ein …“, begann ich und Aulacid vollendete den Satz, „Atomverschieber, jawohl.“
„Wir können gleich los“, sagte die Zwergin zu Aulacid. „Wir müssen nur vorher noch den kleinen Felsen entfernen, der sich zwischen Plattform und Fels eingeklemmt hat.“
„Daher also das Rumpeln“, entgegnete Aulacid und zwinkerte mir dabei zu.
Tatsächlich, wenige Minuten später, als der Felsen entfernt war, setzte sich die Plattform mit uns fünf Passagieren geräuschlos in Bewegung. Habe ich schon erwähnt, dass ich mit großen Höhen so ein bisschen ein Problem habe? Speziell dann, wenn eigentlich keinerlei Sicherheitsvorkehrungen wie Seile oder Ähnliches das Gefährt absichern, welches sich senkrecht die Wand hochbewegt, alleine fixiert und bewegt durch diese erstaunliche Technologie der Atomverschiebung. Ich gebe zu, ich war entspannter, als die Plattform in den Dunst eintauchte und ich nicht mehr in die Ferne blicken konnte. Was ich aber zuletzt sah, bestätigte meinen Eindruck, dass wir uns irgendwo am Rande der gesamten offenen Innenwelt befinden mussten, denn man konnte deutlich mehrere aufsteigende Seiten erkennen und auf die Entfernung sogar so etwas wie eine Krümmung der Felswände. Am Beginn des Aufstiegs, nachdem Aulacid bemerkt hatte, dass ich ein kleines Problem mit der Höhe hatte, hatte sie meine Hand genommen. Ihre Berührung war nicht nur sehr angenehm, sondern auch sehr hilfreich und ich konnte spüren, wie meine Furcht sich langsam auflöste. Es war mit dem Gefühl vergleichbar, als ich vor über einem Jahr in der Höhle Jesus kennengelernt und er mir meine Panik genommen hatte.
Nach einer halben Stunde Fahrt und einer gefühlten Ewigkeit hielten wir an. Genau vor einem halbkreisförmigen Tunneleingang. Wie alles in diesem zauberhaften Land war dieser ebenmäßig und absolut exakt gearbeitet – eine ihrer Maschinen dürfte wohl wieder perfekt ihre Arbeit verrichtet haben.
Mit einer Breite von nahezu acht Metern und einer Höhe von vier Metern bot er wohl jedem Volk genug Platz.
Wir gingen diesen Tunnel entlang, der leicht bergauf zu gehen schien und sich nach links drehte. Die Wände leuchteten ganz leicht und man konnte sehr gut sehen, was natürlich das Vorankommen erleichterte. Schließlich erreichten wir eine Art steinernes Tor, durch welches wir hindurchgingen. Plötzlich hatte ich ein Déjà-vu. Wir betraten einen Raum, den ich schon einmal gesehen hatte. Es war der gleiche Raum, in dem ich mit Professor Siegfried den eingeschmolzenen Riesen entdeckt hatte. Der Raum, der später von den Stiftsherren aus Rovau versiegelt worden war. Und doch war er anders. Das war nicht derselbe Raum, sondern einer von vielen, die sich aber alle ähneln. Es sind sogenannte Ausstiegsräume, in welchen man noch einmal über die Gefahren informiert wurde und sich meditierend auf seine Aufgabe vorbereiten konnte.
Die Seite, über welche wir den Raum betreten hatten, war auch dieselbe Seite, in der das Riesenskelett in der Höhle unter dem Stift Rovau eingeschmolzen war. Die Wände waren voller Sätze in der Sprache des Voynich-Manuskripts, ihrer Sprache. Mit den beigegebenen bildlichen Darstellungen der Sätze könnte man meinen, man wäre in einer Vorschulklasse. Mit dieser Einschätzung war ich der Wahrheit sogar sehr nahe gekommen, bestätigte mir Aulacid später. Jeder der 500.000 Einwohner lernte nicht nur alle gängigen Sprachen der Außenwelt, sondern zuerst vor allem ihre Ursprache. Im Zuge ihrer Ausbildung kamen die Jungen immer wieder in solche multilingualen Höhlen. Einerseits, um das Erlernte in die Praxis umzusetzen, andererseits auch, um etwas über ihre Geschichte und die der Menschen zu erfahren. Ein klassischer Schulwandertag, dachte ich mir und musste grinsen.
Nach ein paar Stunden des Lesens und Verstehens der Regeln und des Innehaltens nahmen wir ein Essen zu uns. Es war und ist für mich immer etwas Besonderes mit diesen physisch so unterschiedlichen alten Völkern ein gemeinsames Mahl einzunehmen.
Es ist nicht nur das Ritual des Teilens, es ist eine alte Verbundenheit spürbar, die nur sehr schwer beschrieben werden kann. Während des Essens erfuhr ich, dass zwei der Zwerge, die wirklich aussahen wie aus einem Film – klein, kräftig, behaart und wortkarg – hier auf unsere Rückkehr warten würden. Die Zwergin sollte uns zum Ausgang geleiten und dort auf uns warten.
„Wo werden wir eigentlich aussteigen?“, fragte ich Aulacid.
Ihre Antwort war kurz und knapp: „Schottland“, sagte sie.